Offe­ner Brief der Studie­ren­den an die Bundes­kanz­le­rin, die Bundes­re­gie­rung (vertre­ten durch die Bundes­mi­nis­te­rIn­nen Herrn Scholz und Frau Karlic­zek), die Minis­ter­prä­si­den­tIn­nen und Bürger­meis­te­rIn­nen der Länder sowie die Vorsit­zen­den der Partei­en und Frak­tio­nen des Deut­schen Bundes­ta­ges über die sozia­le Notla­ge der Studie­ren­den in der Corona-Krise

Sehr geehr­ter Herr Minis­ter­prä­si­dent Dr. Markus Söder,

Deutsch­land steht in der aktu­el­len Coro­­na-Pande­­mie vor gesell­schaft­li­chen Heraus­for­de­run­gen unbe­kann­ten Ausma­ßes. Nie zuvor waren die Einschnit­te im gesell­schaft­li­chen Leben aufgrund einer Pande­mie so weit­rei­chend, die Folgen für die Wirt­schaft und den Arbeits­markt so gravie­rend. Auch die Studie­ren­den trifft die Coro­­na-Pande­­mie in Deutsch­land hart. Schät­zungs­wei­se 750.000 Studie­ren­de stecken seit zwei Mona­ten in exis­ten­ti­el­len finan­zi­el­len Notla­gen. Sie haben ihren Neben­job verlo­ren oder ihre laufen­den Arbeits­ver­trä­ge wurden nicht verlän­gert. Viele dieser Studie­ren­den wissen seit Wochen nicht, wie sie ihre Miete, Lebens­mit­tel oder weite­re Verbind­lich­kei­ten zahlen sollen. An ein sorgen­frei­es und regu­lä­res Studi­um ist für diese Menschen gar nicht zu denken. Viele werden in den nächs­ten Wochen und Mona­ten ihr Studi­um aus finan­zi­el­len Grün­den abbre­chen müssen, eini­ge haben es schon getan. Denn leider hat die Poli­tik in den letz­ten zwei Mona­ten im Allge­mei­nen sehr wenig für die drei Millio­nen Studie­ren­den in Deutsch­land unter­nom­men. Studie­ren­de, die ihren Verdienst zumeist mit mehre­ren Neben­jobs bestrei­ten, können kein Kurz­ar­bei­ter­geld bezie­hen und werden statt­des­sen in der Regel schlicht und ergrei­fend aus ihrem Arbeits­ver­hält­nis gekün­digt. Auch der Bezug von Arbeits­lo­sen­geld II während eines Studi­ums ist ausge­schlos­sen. Sie fallen damit durch alle Siche­rungs­net­ze unse­res Sozi­al­sys­tems. Viele warten daher seit Mona­ten auf ein poli­ti­sches Signal zur Siche­rung ihrer Existenz.

Erst nach einein­halb Mona­ten hat das Bundes­mi­nis­te­ri­um für Bildung und Forschung eine “Lösung” für in Not gera­te­ne Studie­ren­de präsen­tiert. Nach dieser sollen die Gelder sogar erst zum 1. Juni für einen Teil der EU-Studie­­ren­­den und zum 1. Juli für auslän­di­sche Studie­ren­de flie­ßen. Viele Studie­ren­de hatten bis dahin einen Ausfall von annä­hernd drei Monats­ein­künf­ten. Diese “Lösung” besteht aus gering­fü­gi­gen Anpas­sun­gen der Bedin­gun­gen des bereits seit 2006 bestehen­den KfW-Studi­en­­k­re­­dits sowie der Aufsto­ckung der Hilfs­fonds von Studie­ren­den­wer­ken. Doch sie verkennt die Reali­tät der Studie­ren­den. Viele Studie­ren­de werden sich durch den Kredit verschul­den, die Zuschüs­se an die Studie­ren­den­wer­ke stehen aktu­ell noch gar nicht zur Auszah­lung bereit und werden bei Weitem nicht ausrei­chen. Eine verschul­de­te Studie­ren­den­ge­ne­ra­ti­on darf es unter keiner­lei Umstän­den geben und ist die schlech­tes­te “Lösung”, die sich der Bildungs- und Wissen­schafts­stand­ort Deutsch­land leis­ten konnte.

Kredit­bür­de für eine ganze Studierendengeneration

An den Kondi­tio­nen des KfW-Studi­en­­k­re­­dits ändert sich in der Krisen­lö­sung nur, dass dieser auch für inter­na­tio­na­le Studie­ren­de – befris­tet auf neun Mona­te – zugäng­lich ist und in der Anfangs­zeit – bis März 2021 – zins­frei ausge­zahlt wird. Das bedeu­tet jedoch, dass nach dem 31.03.2021 ganz normal Zinsen anfallen.

Dementspre­chend führt diese Lösung zu einer Gesamt­zins­last von mehre­ren tausend Euro für die Studie­ren­den, während der Bund davon gera­de einmal bis zu 150 € trägt, wie sowohl wir Studie­ren­den­ver­bän­de [1] als auch die GEW [2] vorrech­ne­ten. Prin­zi­pi­ell gilt: Je schlech­ter es den Studie­ren­den finan­zi­ell geht, desto höher die Zins­last – auch in der Krise! Auch für inter­na­tio­na­le Studie­ren­de aus soge­nann­ten Dritt­staa­ten kann u.a. aufgrund einschrän­ken­der Bedin­gun­gen auf dem Arbeits­markt wie der 120-Tage-Regel, die Rück­zah­lung eines Kredits beson­ders heraus­for­dernd sein [3]. Hier von einem zins­lo­sen Kredit zu spre­chen, ist nicht rich­tig. Wirk­lich offen kommu­ni­ziert wurde dieser Umstand bisher nicht.

Es kommt hinzu, dass sich auch bei den Voraus­set­zun­gen für den Kredit nichts ändert. Das heißt, dass Studie­ren­de, die bereits vor der Krise einen Studi­en­kre­dit aufge­nom­men und noch nicht zurück­ge­zahlt haben, keinen weite­ren Kredit als “Über­brü­ckungs­hil­fe” aufneh­men können. Auch Studie­ren­de, die über dem 10. Fach­se­mes­ter sind, bekom­men bei der KfW keinen Kredit. Einer­seits benach­tei­ligt das Studie­ren­de im Diplom oder Staats­examen gegen­über Bache­lor und Master, ande­rer­seits ist die Regel­stu­di­en­zeit gene­rell schwer einzu­hal­ten. Nur knapp 40 % der Studie­ren­den schlie­ßen laut den Zahlen des Statis­ti­schen Bundes­am­tes ihr Studi­um in Regel­stu­di­en­zeit ab [4]. Damit fallen immer noch enorm viele Studie­ren­de durchs Raster.

Die monat­li­che Kredit­hö­he beträgt bis zu 650 € pro Kopf. Es ist unvor­stell­bar, mit einer solchen Summe in Groß­städ­ten wie München, Köln oder Hamburg seinen Lebens­un­ter­halt zu bestrei­ten. Das Exis­tenz­mi­ni­mum für einen allein­ste­hen­den 1‑Personen Haus­halt wurde für das Jahr 2020 auf 9.168 € fest­ge­legt. Dies sind monat­lich 784 € und damit mehr als die maxi­ma­le Antrags­sum­me des KfW-Kredits. Bedarfs­ge­recht ist also selbst die höchs­te zu bean­tra­gen­de Summe nicht.

Zuschüs­se als sozi­al­ver­träg­li­che Lösung

Die Studie­ren­den­wer­ke bekom­men zusätz­lich insge­samt 100 Mio. Euro, um hier­mit ihre loka­len Hilfs­fonds aufzu­sto­cken. In den vergan­ge­nen Wochen haben bereits Initia­ti­ven aus Ländern wie Hessen, Berlin oder Schles­­wig-Holstein Studie­ren­den finan­zi­el­le Sofort­hil­fen zur Verfü­gung gestellt. Dies begrü­ßen wir ausdrück­lich. An den großen Antrags­zah­len und der schnel­len Ausschöp­fung dieser Mittel zeig­te sich jedoch, dass weite­re Hilfen drin­gend nötig sind. Jedoch würde, wenn man diese 100 Mio. Euro zu glei­chen Teilen auf die 750.000 Studie­ren­den in finan­zi­el­ler Not vertei­len würde, diese nicht einmal 150 € bekom­men und das als einma­li­ge Zahlung. Das heißt die Zuschuss­hö­he ist viel zu gering und eben­falls nicht bedarfs­ge­recht. Wenn man bedenkt, dass Studie­ren­de durch­schnitt­lich für die Miete 323 € aufbrin­gen müssen [5], stellt das in keiner Weise eine bedarfs­ge­rech­te Zuschuss­hö­he dar.

Dabei wäre mehr Geld vorhan­den. Im Jahr 2019 wurden um die 900 Mio. € an veran­schlag­ten BAföG-Mitteln nicht abge­ru­fen. Das ist Geld, welches für die Studie­ren­den vorge­se­hen war. Eine Verwen­dung dieser Mittel würde sich für eine ziel­ge­rech­te und faire Zuschuss­lö­sung hervor­ra­gend eignen. Dass es ledig­lich 100 Mio. € von einer knap­pen Milli­ar­de in den Topf geschafft haben, ist aus unse­rer Sicht eine mage­re Bilanz.

Studi­en­fi­nan­zie­rung zukunfts­si­cher gestalten

Nutzen Sie jetzt diese histo­ri­sche Situa­ti­on, um für gesi­cher­te Ausbil­dungs­ver­hält­nis­se und finan­zi­el­le Siche­rung der Studie­ren­den zu sorgen. Aus den Erfah­run­gen der letz­ten Mona­te muss die Erkennt­nis erwach­sen, dass viele Notla­gen von Studie­ren­den hätten vermie­den werden können, wenn es eine gesi­cher­te Studi­en­fi­nan­zie­rung für alle gege­ben hätte. Seit Jahr­zehn­ten plädie­ren viele für ein verbes­ser­tes BAföG. Die finan­zi­el­le Absi­che­rung des Studi­ums darf nicht nur eine poli­ti­sche Forde­rung blei­ben, sie ist ein grund­le­gen­der Baustein für eine gut ausge­bil­de­te zukünf­ti­ge Gesellschaft.

Gemein­sam stark – Bund und Länder für die Studierenden

Studie­ren­den muss in dieser außer­ge­wöhn­li­chen Situa­ti­on finan­zi­ell gehol­fen werden. Dafür müssen sich der Bund und die Länder davon abwen­den, die Zustän­dig­kei­ten für die sozia­le Notla­ge der Betrof­fe­nen beim jeweils ande­ren zu sehen. Nach zwei Mona­ten Still­stand und Exis­tenz­not für hundert­tau­sen­de Studie­ren­de muss dieser Verschie­be­bahn­hof der Verant­wort­lich­kei­ten endlich been­det werden. Klare Aussa­gen und konkre­te, umsetz­ba­re Hilfen für die in Not gera­te­nen Studie­ren­den sind drin­gend erfor­der­lich. Die Zukunft des Wissen­schafts­stand­or­tes Deutsch­land ist in Gefahr, wenn Studie­ren­de, die das Hoch­schul­we­sen mit Leben erfül­len, diesen reihen­wei­se verlas­sen müssen.

Auch muss die Darle­hens­lö­sung des Bundes drin­gend über­dacht werden. Die drohen­de Zins­last durch den “zins­lo­sen” KfW-Kredit für Studie­ren­de führt zu einer verschul­de­ten Studie­ren­den­ge­ne­ra­ti­on. Das Problem der Finan­zie­rung wird mit einem Kredit anstatt eines Zuschus­ses nur in die Zukunft hinaus­ge­scho­ben. Die Studie­ren­den, die sich nun notge­drun­gen dafür entschei­den, einen solchen Kredit aufzu­neh­men, müssen bei der derzeit vorge­schla­ge­nen Lösung noch während des Studi­ums die Rück­zah­lung finan­zi­ell stemmen.

Wir fordern daher ein Bund-Länder-Programm zur Aufsto­ckung der Zuschüs­se an die Studie­ren­den­wer­ke auf mindes­tens 900 Millio­nen Euro. Für eine bedarfs­ge­rech­te nach­hal­ti­ge Finan­zie­rung der Studie­ren­den in der Krise ist jedoch mehr als diese knap­pe Milli­ar­de Euro nötig. Die Mittel müssen allen Studie­ren­den zugäng­lich sein und abseits der Bedürf­tig­keit an keine weite­ren Bedin­gun­gen geknüpft werden.

Eine soli­da­ri­sche Gesell­schaft profi­tiert davon, wenn sie Verant­wor­tung für den wissen­schaft­li­chen Nach­wuchs der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land über­nimmt, und damit eben­so in ihre Zukunft, in ange­hen­den Inge­nieu­rIn­nen, ÄrztIn­nen, Lehre­rIn­nen, Sozi­al­päd­ago­gIn­nen und Wissen­schaft­le­rIn­nen inves­tiert. Die Studie­ren­den von heute sind die Krisen­ma­na­ge­rIn­nen von morgen. Machen Sie dieses Land auch in Zukunft krisen­fest und helfen Sie den in Not gera­te­nen Studie­ren­den – durch bedarfs­de­cken­de Zuschüs­se, durch ein refor­mier­tes BAföG für alle, sowie durch schnel­le und vor allem unbü­ro­kra­ti­sche Hilfe. Sichern Sie die zukünf­ti­ge Generation!

Mit freund­li­chen Grüßen und blei­ben Sie gesund!

Anna-Maria Trink­geld
Cari­na Steyerer
Maxi­mi­li­an Frank

Spre­che­rIn­nen der LAK Bayern

 

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Quel­len­ver­wei­se

[1] https://​latnrw​.de/​2​0​2​0​/​0​5​/​0​6​/​p​r​e​s​s​e​m​i​t​t​e​i​l​u​n​g​–​s​t​a​a​t​–​v​e​r​d​i​e​n​t​–​a​n​–​s​t​u​d​i​e​r​e​n​d​e​n​–​i​n​–​n​ot/ [2] https://​www​.spie​gel​.de/​p​a​n​o​r​a​m​a​/​b​i​l​d​u​n​g​/​d​a​r​l​e​h​e​n​–​f​u​e​r​–​s​t​u​d​i​e​r​e​n​d​e​–​i​n​–​n​o​t​–​i​m​–​a​n​s​a​t​z​–​v​o​e​l​l​i​g​–​v​e​r​f​e​h​l​t​–​a​–​c​5​1​4​d​e​3​6​–​2​c​9​0​–​4​f​3​6​–​9​4​8​5​–​a​f​7​b​a​5​2​a​5​ab6 [3] http://​www​.geset​ze​-im​-inter​net​.de/​a​u​f​e​n​t​h​g​_​2​0​0​4​/​_​_​1​6​b​.​h​tml [4] https://​www​.desta​tis​.de/​D​E​/​P​r​e​s​s​e​/​P​r​e​s​s​e​m​i​t​t​e​i​l​u​n​g​e​n​/​2​0​1​6​/​0​5​/​P​D​1​6​_​1​8​1​_​2​1​3​.​h​tml [5] http://​www​.sozi​al​erhe​bung​.de/​d​o​w​n​l​o​a​d​/​2​1​/​S​o​z​2​1​_​h​a​u​p​t​b​e​r​i​c​h​t​.​pdf

Offe­ner Brief

Landes-ASten-Konfe­renz Bayern
c/o Studie­ren­den­ver­tre­tung der LMU
Leopold­stra­ße 15
80802 München